Von der stärkenden Kraft der Bäume sind die Japaner seit Langem überzeugt. Nun kommt das Waldbaden auch bei uns an.
Langsam atme ich die frische, morgendliche Waldluft ein, tief in den Bauch. Meine Augen sind geschlossen. Ein paar Meter von mir entfernt zwitschern Vögel. Entspannung macht sich in mir breit. Ein angenehmes Gefühl, nachdem ich kurz zuvor noch mit Blick auf die Uhr zu meinem Reportagetermin gehetzt war.
Wie eine wohlige, warme Wellnessdusche im Winter: So hatte ich mir das Waldbaden zuvor vorgestellt. Wie es sich tatsächlich anfühlt, lässt mich Marieke Kremers erfahren, die mich an diesem Tag in einem Waldstück im Weiler Schiltzberg am Rande des Müllerthals anleitet. Sie ist als Naturcoach tätig und bietet das Waldbaden in Luxemburg an.
Nach den ersten tiefen Atemzügen schlendern wir gemächlich den Pfad entlang, richten den Blick immer wieder bewusst vom Weg ab. Die 45-Jährige hat einige Sinnesübungen für mich mitgebracht. Mal soll ich mich auf Formen und Farben konzentrieren, die die Natur hergibt. Mal den Geräuschen lauschen oder barfuß durchs Laub gehen. Gemeinsam bewundern wir die unterschiedlichsten Pilze, die uns begegnen. Und auch wenn ich ihre Idee, einen Baum zum Anlehnen auszuwählen, im ersten Moment befremdlich finde, suche ich mir doch ein Exemplar aus und ertaste seine Rinde mit beiden Händen. Kein anderer Gedanke hat mehr Platz. Im Hier und Jetzt zu sein und den Alltag für eine Weile auszuschalten: Das macht das Waldbaden aus.
Für Marieke Kremers ist Achtsamkeit, das heißt das Wahrnehmen des gegenwärtigen Moments, essenzieller Bestandteil des Waldbadens. Gerade dieses bewusste Erleben der Natur sorge für den Unterschied zum Spaziergang mit Hund oder der Joggingrunde unter Baumwipfeln. „In unserer hektischen Gesellschaft haben wir Achtsamkeit verlernt“, sagt sie. So sind es vor allem Gestresste und Ruhebedürftige, die sich in ihre Hände begeben, um im Freien Momente der Entspannung zu erfahren.
„Shinrin Yoku“, das Baden in der Waldluft, hat sich seit den 1980er Jahren in Japan etabliert. Wissenschaftler erforschen dort die heilsamen Effekte. Das Waldbaden ist als präventive Maßnahme anerkannt. Inzwischen wird es auch in vielen europäischen Ländern immer beliebter. In Luxemburg ist es noch kaum verbreitet, wohingegen in vielen Teilen Deutschlands entsprechende Kurse auf eine breite Nachfrage stoßen. Auf der Ostsee-Insel Usedom lädt seit Herbst 2017 ein Kur- und Heilwald dazu ein, auf drei Parcours unterschiedlicher Länge in die Natur einzutauchen und auf dem Weg Meditations- und Sensorikübungen auszuprobieren. Anleitung bieten darüber hinaus unzählige Ratgeberbücher, die in den vergangenen Monaten auf Deutsch und Französisch erschienen sind.
Doch was ist wirklich dran an diesem Gesundheitstrend? Prof. Dr. Dr. Angela Schuh, medizinische Klimatologin am Lehrstuhl Public Health der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat sich die Studienlage genau angeschaut. Das Waldbaden wirke erwiesenermaßen „stressreduzierend und psychisch stabilisierend“, sagt sie. Der Blutdruck und der Spiegel des Stresshormons Cortisol sänken. „Die präventive Wirkung ist gesichert“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Vieles muss aber noch untersucht werden: von der Auswirkung auf das Immunsystem bis hin zur Krebsvorbeugung.“ Erste Studienergebnisse, die in diese Richtung zielen, seien wissenschaftlich nicht belastbar.
Mir gibt das Waldbaden innere Ruhe.
Die positiven Effekte dieses Eintauchens in die Natur führt Angela Schuh unter anderem auf die saubere Luft zurück, die Haut und Atemwegen guttut. „Das ist ein wichtiges Thema in Zeiten von Feinstaub“, sagt sie. „Außerdem wird es klimatisch immer wärmer. Im Wald ist es kühler und feuchter, was den Körper entlastet.“ Für Entspannung sorge auch das gedämpfte Licht, das durch die Blätter dringt. Sie rät dazu, pro Woche mindestens zwei Stunden in der Natur zu verbringen, um einen länger anhaltenden Erholungseffekt zu erzielen.
Marieke Kremers sucht oft und gerne die Nähe zur Natur, weil sie hier Ausgleich findet. „Mir gibt das Waldbaden innere Ruhe. Ich merke, dass ich weniger bei mir und viel angespannter bin – seelisch wie körperlich – wenn ich einige Tage keine Zeit dafür hatte.“ Ein lästiger Punkt auf der To-Do-Liste, der für Stress sorgt, sollte es trotz einer gewissen Regelmäßigkeit nicht werden: „Das ginge am Ziel vorbei. Es ist wichtig, dass es sich nicht als Verpflichtung anfühlt.“
Kerstin Smirr
Dieser Beitrag ist im September 2019 im luxemburgischen Wochenmagazin „Télécran“ erschienen.